Lesedauer: 4 Minuten

Die Textil- und Bekleidungsindustrie steht beim Textilrecycling vor einer Mammutaufgabe: Weltweit fallen jährlich rund 92 Millionen Tonnen Textilabfall an. Das entspricht in etwa dem Gewicht von über 400 Milliarden Arbeitshemden. Besonders drastisch: Nur ein Prozent davon wird wieder zu neuer Kleidung verarbeitet. Allein in der EU werden 87 Prozent der Alttextilien verbrannt oder auf Deponien entsorgt. Gleichzeitig wächst der regulatorische Druck auf Unternehmen, nachhaltigere End-of-Life-Lösungen zu entwickeln und die Kreislaufwirtschaft zu stärken. „Ich war überrascht von der nicht vorhandenen End-of-Life-Strategie in der Textilbranche und schockiert von dem enormen Ressourcenfraß“, sagt Angelique Thummerer. Die Softwareingenieurin kannte die Textilindustrie zuvor nur aus Konsumentensicht – bis sie 2022 die Textilbetriebswirtin Katja Wagner auf Instagram kennenlernte. Wagner hatte damals ein Label für recyclingfähige Sneaker und suchte eine Fotografin. „Angi verdiente sich neben dem Studium etwas Geld mit Fotografie und hat für mich die ersten guten Bilder geschossen“, erzählt Wagner. Motiviert von den drastischen Auswirkungen fehlender Recyclingsysteme, gründeten die beiden 2023 das Start-up TURNS, um einen eigenen Textil-zu-Textil-Kreislauf aufzubauen. Dessen bevorzugte Rohstoffquelle: Arbeitskleidung von Unternehmen.
Vom Compliance-Paradox zur Geschäftsidee

Wagner kam schon früh mit der professionellen Textilpflege in Kontakt: „Ich habe beim Berufsbekleidungshersteller HAKRO gelernt und bin dann zur Industriewäscherei gekommen.“ Dort habe sie zum ersten Mal gesehen, wie viel Wirtschaftlichkeit in der Qualität eines Textils liegen kann. Gleichzeitig fiel ihr ein Paradox auf: „Einerseits achten Unternehmen bei Corporate Fashion auf hohe Standards und schreiben CSR-Berichte – andererseits werden am Ende riesige Mengen davon einfach verbrannt.“ Der Grund für die thermische Verwertung: Firmenkleidung enthält oft Logos, Namensschilder oder andere identifizierbare Merkmale, weshalb Unternehmen es aus Compliance-Gründen in der Regel vermeiden, sie erneut in Umlauf zu bringen. Wagner und Thummerer fragten sich: Lässt sich Berufsbekleidung nicht auch compliance-konform recyceln? „Wenn man Unternehmen als Alternative zum Verbrennen für eine End-of-Life-Recyclinglösung begeistern will, die ebenfalls alle Haftungsrisiken ausschließt, braucht es ein datenschutzkonformes Recycling mit garantierter Zerstörung“, erklärt Wagner. Genau dieses haben die beiden entwickelt – und vollständig digitalisiert.
Digital-Tracking vom Blaumann bis zur Bluse
Der TURNS-Recyclingprozess beginnt zunächst ganz unspektakulär mit der Anmeldung auf der Online-Plattform und der Einsendung der ausrangierten Firmenkleidung. „Das ist die Eintrittskarte in den TURNS-Faserkreislauf“, sagt Wagner. Nach der Registrierung erhalten die Unternehmen – ähnlich wie bei einer Retoursendung – ein Label mit allen wichtigen Daten. Im Anschluss gehen die Alttextilien per Post oder Spedition zu den Sortierpartnern von TURNS, darunter auch soziale Einrichtungen. Dort wird die Firmenkleidung manuell sortiert und durchläuft parallel – auch unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz (KI) – eine Materialanalyse nach Faser, Farbe und Qualität, um die Altkleider ihren optimalen Güteklassen, also späteren Verwertungswegen, zuzuordnen. Das Recycling erfolgt anschließend bei spezialisierten Firmen in ganz Europa – mechanisch oder chemisch, je nach Faserart.

Die Unternehmen können dabei den Weg ihrer ausgemusterten Betriebskleidung in Echtzeit über eine App verfolgen und jederzeit sehen, wo sich ihr ausgedienter Blaumann, ihre verblasste Warnweste oder ihr abgenutztes Diensthemd gerade befinden. „Der Prozess ist von der Einsendung bis zur Verarbeitung zur neuen Faser digital nachverfolgbar und rechtssicher“, sagt Thummerer. So erhalten die Unternehmen neben Verwertungsnachweisen nach der Entsorgungsfachbetriebeverordnung (EfbV) und Daten für ihr ESG-Reporting auch die Info zum genauen Zeitpunkt der Zerstörung ihrer eingelieferten Alttextilien. Das gesamte digitale Ökosystem mit Online-Plattform, intelligenter Datenauswertung, Sortierlogik und App haben Thummerer und ihr Team größtenteils selbst programmiert. „Ohne Digitalisierung wäre das rechtssichere Textilrecycling von Firmenkleidung nicht machbar und auch nicht skalierbar“, sagt sie.
Arbeitskleidung: Der optimale Kandidat fürs Textilrecycling

Dass sich TURNS für sein Textil-zu-Textil-Recycling auf Berufsbekleidung konzentriert, ist kein Zufall: „Sie liefert uns große Mengen an homogener Kleidung in hoher Qualität, ist bereits oft lokal an einem Ort verfügbar und durch die ohnehin vorhandene Intralogistik der Unternehmen gut rückverfolgbar“, erklärt Textilexpertin Wagner. Hinzu komme: Viele Unternehmen wünschten sich ausdrücklich eine exklusive und sichere Verwertungslösung mit garantierter Zerstörung. Dass der Ansatz funktioniert, zeigen die ersten Kunden: TURNS recycelt bereits Arbeitskleidung von Austrian Airlines, der Drogeriemarktkette dm, den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), dem Textilleasing-Anbieter Salesianer sowie Bosch, dem größten Autozulieferer der Welt. „Es sind bereits Produkte im sechsstelligen Bereich aus recycelten ‚Firmenfasern‘ im Umlauf“, so Wagner. Ein großes, aber bisher noch kaum genutztes Recyclingpotenzial sieht sie auch bei Großwäschereien.
Großwäschereien – der schlafende Recyclingriese?
„Die Textilpflege hätte die größte und einfachste Chance, eine textile Kreislaufwirtschaft schon heute konkret umzusetzen“, sagt Wagner. Der Grund: Gewerbliche Wäschereien reinigten täglich große Mengen an Firmenkleidung, verfügten über eine etablierte Infrastruktur und gute Logistik samt EDV. „Da lässt sich ein Artikel am Ende seiner Lebensdauer einfach in ein Recycling-Böxlein einsortieren.“ Derzeit aber laufe das Recycling über Großwäschereien noch zögerlich. Wagner vermutet dahinter zum einen deren Preissensitivität und zum anderen, dass Kreislaufwirtschaft noch nicht überall als Mehrwert erkannt werde. Doch das könnte sich bald ändern: Laut dem europäischen Textilverband EURATEX könnte das Marktvolumen für das Textilrecycling allein in Europa bis 2030 auf 6-8 Milliarden Euro wachsen. Wagner ist überzeugt: „Industriewäschereien könnten hier in Zukunft ihre Rolle von der reinen Textilpflege hin zu einem umfassenden Lifecycle-Management ausbauen.“